Dieses Leben ist (k)ein Traum (2)

gepostet von Julia am 9. Oktober 2021
Kurzgeschichten
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Das Shooting am nächsten Tag war in Südtirol. Ein angesagtes Label, von dem ich noch nie gehört hatte, hatte mich für eine Kampagne gebucht. Ich musste bereits in aller Frühe los zum Flughafen, um nach Bozen zu fliegen. Ich verabschiedete mich von Lukas, den ich ein paar Tage nicht sehen würde, und machte mich auf den Weg. Diesmal war Sarah nicht zur Stelle, um mich zu begleiten, aber sie hatte die Reise perfekt durchorganisiert. Ich fuhr mit dem Taxi zum Flughafen und von dort ging es mit dem Flugzeug weiter. Erste Klasse. Offenbar hatte sich Marc nicht lumpen lassen. Da es sich um eine Outdoor-Marke handelte, sollte das Shooting in den Bergen stattfinden, was eine halbe Weltreise bedeutete. Von Bozen fuhr ich weiter mit Zug und Bus, bis ich endlich am Ort des Shootings angekommen war. Ich war ein wenig müde von der Anreise, doch mir blieb keine Zeit zum Ausruhen und wurde gleich in Beschlag genommen. Maske, Styling, … das volle Programm. Dann ging es ans eigentliche Shooting. Es war bereits Mitte Oktober und in den Bergen war es deutlich kälter als in der Stadt. Ich fror erbärmlich in der Frühjahrskollektion, aber ich traute mich nicht, mir etwas anmerken zu lassen. Sarah hatte mich im Vorfeld extra ermahnt, professionell zu sein. Also biss ich die Zähne zusammen und machte meinen Job. Anscheinend machte ich den sogar ziemlich gut. Als ich es endlich hinter mir hatte, lobte mich der Leiter des Shootings in den höchsten Tönen: »Ich habe noch nie mit einem so professionellen Model gearbeitet«
Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, dann wickelte ich mich in eine Decke und trank einen Schluck heißen Tee. Ich fühlte mich mit einem Mal so leer.

Später aß ich im Hotel mit den Leuten vom Shooting zu Abend. Sie redeten angeregt über andere Leute, die ich nicht kannte, und ich konnte dem Gespräch nur mit Mühe folgen. Hier und da nickte und lachte ich an passenden Stellen oder warf ein erstauntes »Oh, wirklich?« ein. Im Grunde war Model sein nicht viel anders, als eine Rolle zu spielen. Nur dass ich mich langsam fragte, wo die Rolle aufhörte und Hannah anfing. Am Ende entschuldigte ich mich und ging auf mein Zimmer. Endlich hatte ich Ruhe von dem ganzen Trubel, aber so allein im Hotel fühlte ich mich einsam. Lukas stand auf der Bühne - die Tour hatte begonnen - also rief ich bei Sarah an.
»Hannah, Liebes! Gibt es Probleme? Wie lief das Shooting?«, fragte sie sofort.
»Oh, ich denke gut. Es war aber sehr kalt.«
»Natürlich! Was hast du denn erwartet?«
»Oh, ich weiß auch nicht…« Betretenes Schweigen.
»Es hat sich doch keiner beschwert, oder?«, fragte Sarah schließlich.
»Nein, im Gegenteil«, versicherte ich ihr und erzählte vom Kommentar des Shooting-Leiters. »Wunderbar! Dann ist doch alles in Ordnung. Ich hatte schon einen leichten Schrecken, als du so spät noch angerufen hast.«
»Tut mir leid. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass alles okay lief«, sagte ich etwas verlegen.
»Wie nett von dir. Aber es hätte völlig gereicht, wenn du dich morgen gemeldet hättest. Apropos morgen: Vergiss nicht, dass du um halb neun abgeholt wirst.«
»Ja, ich weiß. Danke Sarah.«
»Nichts zu danken, Liebes. Und mach vorher noch ein schönes Foto vom Sonnenaufgang für Instagram, ja?«
Ich legte mein Handy zur Seite und stöhnte. Offenbar war Sarahs einzige Sorge, dass ich meine Arbeit gut machte. Naja, das war ja wohl auch ihr Job. Was hatte ich auch anderes erwartet?

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf. Ich brauchte einen Moment, bis ich mich erinnerte, wo ich war. Dann stand ich auf und genoss erst einmal die Aussicht aus dem Fenster. Ich hatte Glück und es gab tatsächlich einen schönen Sonnenaufgang über den Bergen zu bewundern. Ich erinnerte mich an Sarahs Worte, zog mir schnell was an, ging raus und machte ein Foto. Im selben Moment, in dem ich es postete, kamen auch schon die ersten Likes. Es war immer noch verrückt, aber dass so viele Leute mich bewunderten und sich für mich interessierten, gab mir den Anschub, den ich brauchte.
Wenig später wurde ich abgeholt. Diesmal ging es für ein paar Tage auf die Fashion Week nach Barcelona. Die war zwar nicht so angesagt wie die Fashion Weeks in Berlin, Paris oder New York, aber laut Sarah musste ich solche Gelegenheiten nutzen, um außerhalb von Deutschland noch bekannter zu werden. Da hatte sie vermutlich recht.
Es war wieder eine halbe Weltreise mit Bus, Bahn und Flugzeug, bis ich am Nachmittag in Barcelona ankam. Ich hatte schon immer mal nach Barcelona gewollt, aber es blieb mit keiner Zeit, um die Stadt zu erkunden. Ich hatte am Abend schon die erste Show und ich musste noch gestylt werden.
Fashion Weeks sind eine Mischung aus Langeweile und Hektik. Man verbringt viel Zeit mit rumsitzen, während andere einen schminken, oder man muss warten, bis man mit Styling an der Reihe ist. Wenn man dann dran ist, muss alles sehr schnell gehen. Als ich für den Runway fertig gemacht war, kam das Lampenfieber. Konnte ich in den hohen Absätzen überhaupt laufen? Was, wenn ich vor all den Leuten stolpern und mich zum Depp machen würde? Meine Sorge war unbegründet. Wie schon bei den Shootings wusste ich instinktiv, was zu tun war. Als würde sich mein Körper an etwas erinnern, an das mein Kopf sich nicht erinnern konnte.
Es war schon spät, als ich auf mein Hotelzimmer kam und einen Blick auf mein Handy warf. Ich hatte mehrere Nachrichten. Eine war von Marc, der zwei neue Jobs für mich an Land gezogen hatte, eine andere war von Lukas, der wissen wollte, wie es mir ging.
»Ganz gut, aber ich vermisse dich. Wie läuft die Tour?«, schrieb ich zurück. Die Antwort ließ auf sich warten. Irgendwann konnte ich die Augen kaum noch aufhalten und ging ins Bett. Er war nun mal auf Tour und hatte anderes zu tun, sagte ich mir.

Am nächsten Morgen hatte ich eine Antwort von ihm bekommen.»Ich vermisse dich auch, Babe. Wir sehen uns ja bald wieder. Die Tour läuft gut.«
Er nennt mich Babe! Mein Herz machte immer noch Luftsprünge, als ich mich ein wenig später auf den Weg zur ersten Show des Tages aufmachte. Ich war an diesem Tag gleich bei drei Designern gebucht, es würde also anstrengend werden. Die erste Show brachte ich ohne Probleme hinter mich. Bei der zweiten traf ich Jana, eines der beiden Models vom Maybelline-Shooting, wieder.
»Hannah! Wie schön, dich wiederzusehen!«, grüßte sie mich begeistert.
»Oh, Hallo Jana. Ebenso. Ich wusste gar nicht, dass du auch gebucht wurdest«.
»Und du erinnerst dich sogar an meinen Namen!«, rief sie erfreut.
»Natürlich. Es war doch erst vorvorgestern« sagte ich. Dann erzählte Jana mir aufgeregt, dass das ihre erste Fashion Week war und sie recht spontan gebucht worden war.
»Ich habe natürlich alles stehen und liegen lassen. Finanziell lohnt es sich zwar nicht, für zwei Shows nach Barcelona zu kommen, aber man weiß ja nie, wer einen sieht«. »Da hast du Recht«, stimmte ich ihr zu.
»Hey hast du schon das von Jim gehört?«, fragte sie mich plötzlich.
»Jim?«, fragte ich.
»Ja, Jim, der Fotograf.«
»Ach, der von unserem Shooting? Nein, was ist mit ihm?«
»Er ist tot.«
»Was? Tot? Was ist passiert?«, fragte ich erschüttert
»Naja, offenbar sind große Kunden abgesprungen, nachdem er bei unserem Shooting gepatzt hat. Das hat seine Karriere ruiniert und er hat sich das Leben genommen.« Die Lockerheit, mit der Jana das berichtete, war fast so schlimm, wie die Nachricht an sich.
»Das kann nicht wahr sein!«, brachte ich schließlich hervor.
»Doch, hier steht es. Man hat ihn heute früh gefunden.«
Sie reichte mir ihr Handy rüber und ich las den Artikel, den sie aufgerufen hatte: »Der erfolgreiche Fotograf, der zwei Tage zuvor noch mit Maybelline und Topmodel Hannah Steer für eine neue Kampagne zusammengearbeitet hatte, war laut Autopsie an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben. Seine Freundin fand ihn am nächsten Tag tot in seiner Wohnung in Berlin.« Ich stockte, als ich meinen Namen las.
»Laut seiner Freundin war er in eine tiefe Kriese gestürzt, nachdem Kunde und Model mit seiner Arbeit unzufrieden waren«, las ich weiter. Einen Moment wurde mir schwarz vor Augen.
»Hey, was hast du denn? Wieso bist du so blass?«, fragte Jana.
»Das ist alles meine Schuld!«, sagte ich. »Hätte ich doch nie was wegen der Fotos gesagt!« »Wieso deine Schuld? Du kannst doch nichts dafür, wenn der Kerl nicht mit Kritik umgehen kann und sich das Leben nimmt«, meinte Jana verständnislos.
»Wie kannst du sowas nur sagen?«, fragte ich und sah sie entsetzt an. Es war zwar richtig, dass ich nicht hatte wissen können, welche Ausmaße meine Kritik annehmen würde, ihr Mangel an Empathie aber war erschreckend. Und noch etwas störte mich: Wieso waren seine Kunden so schnell abgesprungen? Jana wollte mich noch weiter in ein Gespräch verwickeln, aber glücklicherweise wurde ich dem Moment in die Maske gerufen. Ich hätte keine Sekunde länger mit Jana ausgehalten.
»Was ist mit dir? Du schaust so unglücklich aus«, meinte der Make-Up Artist auf Englisch. »Schlechte Neuigkeiten«, antwortete ich.
»Willst du darüber reden?«, fragte er freundlich.
»Eigentlich nicht«, erwiderte ich.
»Ah, jetzt versteh ich! Du bist Hannah Steer, nicht wahr? Alle reden über dich und diesen Fotografen«, sagte er plötzlich. Ich merkte, wie ich zusammenzuckte.
»Was sagen sie über mich?«, fragte ich, obwohl ich nicht sicher war, ob ich es wirklich wissen wollte.
»Sie sagen, er hat dich schlecht aussehen lassen und dass danach keiner mehr mit ihm zusammenarbeiten wollte.«
»Was?«, fragte ich erstaunt.
»Oh ja, er muss ein ziemlich mieser Fotograf gewesen sein, wenn er es geschafft hat, dich schlecht aussehen zu lassen.«
»Aber findet es keiner schlimm, dass er sich umgebracht hat?«, fragte ich.
Der Make-Up Artist zuckte nur mit den Schultern. Er schien noch etwas sagen zu wollen, blickte dann aber nach unten, als hätte er… Angst? Was zur Hölle? Den Rest des Tages redete ich kaum mit jemanden und versuchte vor allem Jana aus dem Weg zu gehen. Trotzdem spürte ich die Blicke der Menschen um mich herum. Was sie wohl über mich dachten? War es allen egal, dass sich ein Mann das Leben genommen hatte, oder gaben sie mir die Schuld daran?

Wie ich an dem Tag die Auftritte auf dem Laufsteg ohne Zwischenfälle hinter mich brachte, war mir ein Rätsel. Als ich den letzten hinter mir hatte, machte ich mich so schnell ich konnte auf den Weg ins Hotel. Ich versuchte Lukas zu erreichen, aber er ging nicht ans Handy. Wehmütig dachte ich an mein altes Leben zurück. Normalerweise hätte ich in so einer Situation Marie angerufen und sie hätte mich beruhigt. Zumindest hätte sie mir zugehört, mich verstanden. Was bringen einem 1 Millionen Follower, wenn man niemanden zum Reden hat?
Da ich an dem Abend nichts weiter zu tun hatte, warf ich einen Blick auf Instagram und überflog ein paar Online-Artikel zu dem Selbstmord von Jim. Die Meinungen waren einheitlich: Er hatte schlechte Arbeit geleistet und konnte nicht mit den Folgen umgehen. Es gab nur sehr wenige Stimmen in den Kommentaren, die meine Rolle hinterfragten, doch die verschwanden wenig später auf mysteriöse Weise, als wären sie gelöscht worden.

Am nächsten Morgen, nach einer Nacht mit wenig Schlaf, rief mich Marc, mein Agent an. Er wollte wissen, wie es auf der Fashion Week lief, und hatte noch einen neuen Job für mich. Ein weiteres Shooting, das in drei Wochen stattfinden sollte. Ich fragte ihn, ob er das von Jim, dem Fotografen, gehört hatte.
»Natürlich, jeder hat davon gehört«, meinte er nur.
»Und?«, fragte ich.
»Was und?«
»Naja, es heißt, es hat etwas mit meiner Kritik nach dem Shooting zu tun.«
»Ach Unsinn! Deine Kritik war vollkommen gerechtfertigt. Er hat dich schlecht aussehen lassen. Sowas kann ich nicht dulden.«
»Moment, was meinst du damit?« Mit einem Mal bekam ich ein sehr ungutes Gefühl. »Was hast du getan, Marc?«, fragte ich.
»Nur ein paar Anrufe, nichts weiter«, winkte Marc ab.
»Aha«, sagte ich nur. Ich hatte mich schon gewundert, warum Jim so schnell nach dem Shooting seine Kunden verloren hatte. Da hatte wohl jemand ein wenig nachgeholfen. Möglicherweise hatte Marc auch dafür gesorgt, dass ich bei der ganzen Geschichte so gut wegkam. Bei dem Gedanken wurde mir regelrecht übel. Jim wurde von allen als schlechter Fotograf dargestellt, nur damit ich gut dastand und meine Karriere keinen Schaden nahm. Und nun war er tot.
»Ich steig aus«, sagte ich plötzlich.
»Was?«, fragte Marc.
»Ich steig aus«, wiederholte ich. »Wenn die Fashion Week rum ist, hör ich auf mit dem Modeln.«
»Das kannst du unmöglich ernst meinen!«, rief Marc.
»Doch. Ich brauch dringend etwas Zeit für mich.«
»Aber gleich aufhören? Das kannst du nicht wirklich wollen! Ich sag dir was: Wir sagen einige Jobs ab und du machst ein paar Wochen Pause. Ich bin sicher, danach denkst du ganz anders.« Da war ich mir nicht so sicher. Am Ende versprach ich ihm, noch einmal drüber zu schlafen und nichts zu überstürzen.
Später hatte ich noch zwei Modeschauen. Irgendwie schaffte ich es, sie hinter mich zu bringen, obwohl meine Gedanken ganz woanders waren. Wenigstens würde ich Lukas am nächsten Abend beim Konzert wieder sehen. Das war in dem Moment das einzige, das mich ein wenig aufmunterte. Ich konnte die Blicke der Leute um mich herum nicht mehr ertragen.

Am nächsten Tag ging es zurück nach Berlin. Ich war erleichtert, als ich Barcelona hinter mir lies und im Flugzeug nach Deutschland saß. Während die Welt unter mir kleiner und unbedeutender zu werden schien, dachte ich über die letzten paar Tage nach. Ich hatte alles, was ich mir gewünscht hatte, eine tolle Karriere, Lukas, … aber irgendwie kam es mir vor, als gehörte dieses Leben nicht mir. Die Hannah, die strahlend vor der Kamera stand, posierte, immer bemüht, alles richtig zu machen … das war einfach nicht ich. Ich hatte versucht, die Fassade aufrecht zu halten, aber ich konnte einfach nicht mehr. Nicht nach dem, was mit Jim passiert war.

Ich kam später als geplant bei der Konzerthalle an. Draußen stand schon eine große Schlange Fans. Da fiel mir ein Gesicht in der Menge auf. »Marie? Marie!«, rief ich erfreut. Sie war wirklich hier! Ohne nachzudenken, rannte ich zu ihr und drückte sie an mich.
»Es ist so schön dich zu sehen!«, rief ich erfreut.
»Ähm… Kennen wir uns?«, fragte Marie. Ich sah sie erschrocken an.
»Oh, warte! Du bist ja Hannah!«, sagte sie schließlich überrascht.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du mich noch kennst.«
»Machst du Witze? Natürlich kenne ich dich noch!«, sagte ich. Ihre verhaltene Reaktion verunsicherte mich.
»Du hast mich damals in der Schule immer wie Luft behandelt. Kaum zu glauben, dass du dich überhaupt noch an meinen Namen erinnerst«, sagte Marie.
»Hab ich das wirklich?« Inzwischen hatten einige Umstehende ihre Handys gezückt, um Fotos von mir zu machen. Ich beachtete sie kaum. Ich hatte Marie wieder gefunden!
»Wow, du hast mir nie erzählt, dass du mit Hannah Steer zur Schule gegangen bist!« Erst jetzt fiel mir die junge Frau auf, die neben Marie stand.
»Naja, es ist nicht so, als hätten wir viel miteinander zu tun gehabt«, antwortete Marie. »Oh, das ist Louisa, eine Freundin«, fügte sie an mich gewandt hinzu.
Eigentlich hätte sie heute mit MIR hier sein sollen! Zum Glück klingelte mein Handy in dem Moment. Es war Lukas, der wissen wollte, wo ich steckte. Ich verabschiedete mich ein wenig hastig von Marie und dieser Louisa und eilte Backstage.

»Das bist du ja. Was hat dich so lange aufgehalten?«, fragte Lukas und gab mir einen Kuss auf die Wange.
»Oh, ich hab eine alte Bekannte aus Würzburg draußen getroffen«, sagte ich.
»Wirklich? Wieso hast du sie nicht mitgebracht?«, fragte er. Ja, warum eigentlich? Vielleicht weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass meine beste Freundin mich nicht mehr kannte und einfach so ersetzt hatte? Aber das konnte ich ihm natürlich nicht sagen. Außerdem war Marie offenbar nie meine Freundin gewesen. Nicht in diesem Leben.
»Ist alles in Ordnung?« fragte Lukas.
»Ja, ich bin nur etwas müde von den letzten Tagen.«, log ich. Wobei ganz gelogen war das nun auch wieder nicht. Ich war wirklich müde.
»Nagut. Ich muss jetzt auf die Bühne. Wir reden später, okay?«
»Okay«, sagte ich.
Ich verfolgte das Konzert über einen Monitor im Backstage Raum. Loaded Revolver waren gut drauf. Unter anderen Umständen wäre ich wohl ganz hin und weg gewesen von der Performance. Unter anderen Umständen würde ich aber auch lachend neben Marie im Publikum stehen und nicht müde und traurig auf einem Sofa kauern.

Nach dem Konzert gratulierte ich Lukas und den anderen zu dem tollen Konzert und zwang mich zu einem Lächeln. Lukas konnte ich aber nichts vormachen.
»Also, was ist eigentlich los mit dir? Du bist so anders, seit du zurück bist. Ist etwas passiert?«, fragte er mich, als wir gemeinsam nach Hause fuhren.
»Jim, der Fotograf vom Maybelline-Shooting, ist tot«, antwortete ich und erzählte ihm, was vorgefallen war, und wie Marc anscheinend die Berichterstattung zu meinen Gunsten beeinflusst hatte.
»Was hast du denn gedacht? Er ist dein Agent. Natürlich wird er da alles aus dem Weg schaffen, was deiner Karriere schaden könnte«
»Auch Menschen?«, fragte ich.
»Komm schon Hannah! Du tust ja gerade so, als hätte er diesen Jim mit eigenen Händen umgebracht.«
»Nein, dafür hab ich schon selbst gesorgt mit meiner dummen Kritik. Hätte ich einfach nur meinen Mund gehalten, wäre es nie soweit gekommen. Das einzige, was ich jetzt tun kann, ist mit dem Modeln aufzuhören, damit sowas nicht noch einmal passiert.«
»Du willst mit dem Modeln aufhören? Bist du irre?«, rief Lukas entsetzt.
»Ich dachte, wenigstens du kannst das verstehen«, sagte ich mit Tränen in den Augen. »Was, dass du wegen eines toten Fotografen deine Karriere hinschmeißt? Nein, das verstehe ich nicht.« Lukas war mit einem Mal wie ausgewechselt. So kalt und abweisend hatte ich ihn noch nie erlebt.
»Es ist nicht nur deswegen. Es ist wegen allem. Ich bin einfach nicht mehr ich selbst und das macht mir Angst«, versuchte ich ihm zu erklären.
»Ja, das zumindest kann ich sehen. Ich denke, du brauchst Hilfe. Du hast dich da in etwas hineingesteigert.«
»Hab ich nicht«, protestierte ich. In dem Moment wendete Lukas das Auto und schlug einen anderen Weg ein.
»Wo fahren wir hin?«, fragte ich.
»Dorthin, wo man dir helfen kann«
»NEIN!«, schrie ich. Langsam bekam ich es mit der Panik zu tun. Ich war doch nicht verrückt geworden!
»Halt sofort an!«, forderte ich ihn auf.
»Wir sind gleich da, keine Sorge«, sagte er. Langsam wurde mir klar, wohin er wollte. Als wir hielten, sprang ich sofort raus und versuchte wegzurennen, aber er war schneller. Er erwischte mich am Arm und ich stolperte. Das Letzte, was ich noch mitbekam, war der Aufschlag, dann wurde mir schwarz vor Augen.

Als ich zu mir kam, lag ich in einem Bett. Eine Frau mit freundlicher Stimme beugte sich über mich und hielt ein Glas Wasser an meine Lippen. Ich nahm einen Schluck. Sie sagte, ich solle etwas schlafen und der Doktor würde am nächsten Morgen nach mir schauen.
»Was ist passiert? Bin ich verletzt?«, fragte ich.
»Eine leichte Gehirnerschütterung und ein paar Schrammen, nichts Schlimmes. Wir machen uns eher Sorgen, wegen Ihrer Psyche, Frau Steer.«
Ich wollte protestieren, doch mit einem Mal wurde ich unendlich müde und die Augen fielen mir zu.

Ich wachte auf meinem Sofa auf. Irgendwo klingelte mein Handy.
»Hallo?« sagte ich, als ich den Anruf entgegennahm.
»Hannah! Endlich! Ist alles in Ordnung? Ich hab mir schon Sorgen gemacht! Wir wollten doch vor deiner Schicht noch gemeinsam Essen gehen«
»Marie?«, fragte ich erstaunt.
»Nein, die Königin von England.« Marie lachte. Sie klang erleichtert.
»Sorry, ich hab wohl verschlafen«, sagte ich.
»Verschlafen? Es ist 12.37 Uhr!«
»Oh! Verdammt! So spät schon?«
»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte Marie noch einmal.
»Ja, ich hab nur schlecht geschlafen und hatte einen sehr merkwürdigen Traum.«
»Echt? Worum ging es denn?«
»Erzähl ich dir später. Ich muss mich langsam für die Arbeit fertig machen.«
»Okay, aber Berlin und das Konzert von Loaded Revolver am Freitag steht noch, oder?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Ich hätte eher Lust auf Mädelsabend zuhause«, meinte ich.
»Was? Aber was ist mit Lukas?«, fragte Marie.
»Ich denke, er wird es überleben, wenn ich nicht auf dem Konzert bin.« Marie war sprachlos.
Nach einer schnellen Dusche fühlte ich mich langsam wieder normal. Ich war zurück in Würzburg! Hatte ich das etwa alles nur geträumt? Es hatte sich doch so echt angefühlt! Eine Welle der Erleichterung kam über mich und ich musste lachen. Zum ersten Mal seit langem.

Als ich etwas später am Kino ankam, war ich immer noch in bester Laune.
»Hannah, du schaust so anders aus«, meinte mein Kollege Ben.
»Findest du?«, erwiderte ich und grinste.
»Ja, irgendwie strahlst du heute.«, meinte er.
Da kam mir plötzlich ein Gedanke: »Hey, hast du vielleicht Lust, nach der Arbeit noch etwas trinken zu gehen?«
»Ähm … klar. Gibt es denn was zu feiern?«, fragte er.
»Das Leben, Ben«, antwortete ich. »Nur das Leben.«

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